Marion Bornscheuer - „Mit aller Kraft“ zur Leichtigkeit
Die Graphiken von Anton Kirchmair
Die Graphiken des gelernten Werkzeugma-chers, ehemaligen Kunsterziehers und künstlerischen Auto-didakten Anton Kirchmair (München 1943 - lebt in Unter-gangkofen bei Landshut) haben einen dialektischen Charak-ter. Sie tragen keine ausgewiesenen Titel, doch bezeichnet sie Kirchmair zu ihrer Unterscheidung gelegentlich mit Hilfe der Technik und einer Nummernfolge. Sie sind abstrakt, evozieren aber unmittelbar den Gedanken an Schriftzeichen oder Naturformationen. Ihre fragilen Linienstrukturen oszil-lieren zwischen schwebender Leichtigkeit und kraftvoller, bis ins Monumentale gesteigerter Erdung, was als ihr Haupt-merkmal gelten kann.
Darüber hinaus verorten sich die Blätter sowohl hinsichtlich der künstlerischen Vorbilder als auch bezüglich der Technik zwischen Tradition und Moderne. Trotz seines abstrakten Formenguts, das Kunstwerken des Informel wie beispiels-weise denjenigen von Eduardo Chillida (San Sebastián 1924 - 2002 ebd.) verwandt ist, orientiert sich Kirchmair durchaus auch an Graphiken von Meistern, die gegenständlich gear-beitet haben: Rembrandt Harmensz. van Rijn (Leiden 1606 _ 1669 Amsterdam), Francisco de Goya y Lucientes (Fuendetodos 1746 - 1828 Bordeaux), oder auch Lovis Corinth (Tapiau 1858 - 1925 Zandvoort). Dabei richtet sich sein Interesse nicht nur auf den graphikspezifischen kreati-ven Aspekt dieser Blätter – dient die Graphik doch seit jeher als experimentelles Medium, in dem sich künstlerische Neu-erungen meist zuerst manifestieren –, sondern vor allem auch auf ihre Techniken. Außerdem betrachtet Kirchmair seine Zeichnungen im Einklang mit der kunsthistorischen Tradition als Vorarbeiten für seine Druckgraphiken, die er jedoch nicht – wie die altmeisterlichen Kupferstecher – im Pausverfahren auf die Platten überträgt, sondern freihändig anfertigt. Dementsprechend weisen seine Zeichnungen und Drucke in der Linienführung starke Unterschiede auf und können zugleich als autonome Kunstwerke bestehen, wie im Folgenden auszuführen ist.
Seine im Jahr 2000 entstandenen Druckgraphiken, die auf radierten und geschabten Kupferplatten hergestellt sind, beeinflussen ihrerseits wiederum Kirchmairs aktuelle Plastiken aus Holzkohle, die er als „Zeichnungen im Raum“ begreift. Damit schließt sich ferner der Kreis von seinem graphischen zu seinem plastischen Werk, das hier allerdings unberücksichtigt bleiben muß.
Die Graphische Sammlung der Staatsgalerie Stuttgart besitzt neben drei Zeichnungen, die auf den 1. September 1998 datiert sind, auch drei im Jahr 2000 entstandene Druckgraphiken von Anton Kirchmair. Den Zeichnungen, die den Ausgangspunkt in Kirchmairs Schaffen bilden, soll unsere Aufmerksamkeit zuerst gelten.
Alle drei Zeichnungen [Abb. 1_3] sind auf weißem Skiz-zenblockpapier von übereinstimmendem Format angefertigt, und alle drei Blätter verfügen über eine völlig intakte Rand-perforierung, die Kirchmair ganz bewußt in seine Werke ein-bezogen hat. Diese Entscheidung kann nur so verstanden werden, daß der Künstler seinem Werkstoff - hier dem Papier - einen Eigenwert zuerkennt: Dessen Spezifika, wie auch die des anschließend auf ihn einwirkenden künstlerischen Werk-zeuges, sollen klar vor Augen stehen. Zugleich wirken die Zeichenblätter durch diesen Kunstgriff wie von Zauberhand aus der Gesamtheit des Skizzenblockes herausgelöst und verweisen damit auf den ideellen Aspekt von Kirchmairs Œuvre.
Als Zeichenwerkzeug verwendet Kirchmair Bleistifte mit har-ten Minen. Er selbst äußerte sich über die Qualität des damit erzielten Striches wie folgt: „Als Zeichner will ich die Linie, die reine klare Linie aus dem silbrigen Grau des gewöhnlich-sten aller Bleistifte, des HB-Stiftes. Ich möchte kein dunkler-heller, kein dünner-dicker. Nur insofern, als der frisch ge-spitzte Stift andere Qualitäten hat als der, bei dem die Mine bis zum umhüllenden Holz heruntergezeichnet ist. Ich kann den Stift nicht nur „spitzen“, sondern auch „flachen“, und so entstehen homogene Graphitflächen als Hommage des Stiftes an die gerippte Oberfläche des Papiers oder als Komplement zu […] den silbrigen Linien.“
Während er arbeitet, fixiert Kirchmair die entstehenden Linien nicht; er fertigt seine Zeichnungen also nicht mit dem auf-merksam beobachtenden Auge an. Vielmehr gleitet sein Blick ins Leere, während er – den ausführenden Arm eng an den Körper genommen und auf sein Inneres konzentriert – den Bleistift unter Einsatz des ganzen Körpers über das Papier führt. Er selbst vergleicht seine zeichnerischen Bewegungen mit denjenigen des Boxsports. So entstehen kraftvolle, ent-schieden gesetzte Linien, die in ihrem Fluß durch das rhyth-mische Lösen des Stiftes vom Papier jedoch kontinuierlich unterbrochen sind und aufgrund der Stifthärte nur einen zarten Grauton annehmen, weshalb sie den Eindruck von Leichtigkeit vermitteln. Anders gesagt: Die Kraftanstrengun-gen des Körpers wie des Geistes übersetzen sich während des Schaffensprozesses in Schwerelosigkeit – abgebildet in den auf dem Papier entstandenen Graphen.
Die erste näher zu betrachtende Zeichnung [Abb. 1] nimmt etwa ein Viertel der Blattfläche ein und ist leicht aus ihrem Zentrum nach unten verschoben. Aus kurzen, ruckartig ge-setzten Strichen, bei denen sich der Bleistift unterschiedlich stark in die Oberfläche des Blattes eingegraben hat, formt sich aus sich übersteigernden, tiefenwirksamen Linien ein luftiges, oval angelegtes Gebilde, das senkrecht in der Fläche steht. Mittig umfängt den transparenten Zeichenkörper eine ringförmige Linie, die ihn zugleich optisch teilt und ihm Breitenwirkung sowie Stabilität im Raum verleiht. Seitlich fügen sich skripturalen Zeichen wie magnetisierte Metall-späne um den Hauptkörper, die ihn zusätzlich ausponde-rieren. Es scheint, als würde sich das gezeichnete Objekt mittels der bündigen Linien um einen nicht näher gekenn-zeichneten Mittelpunkt geradezu materialisieren. So wirkt es einerseits fragil und leicht, erhält andererseits aber eine ge-wisse Bodenhaftung durch die beiden parallel zur seiner Ring- und Außenform geführten Strichfolgen im unteren Blattbe-reich, die das Betrachterauge als Andeutung einer Stand-fläche wahrnimmt. Aufgrund dieser Ambivalenzen ruft die Darstellung schließlich verschiedenartige Assoziationen hervor, die von Drehkörpern – Kreiseln, die auf Spiel, Tanz und Musik verweisen, oder Planeten, wie Saturn, dessen Gottheit in der Mythologie auch als Demiurg galt – über kokonartige Gespinste aus der Welt der Insekten bis hin zu landschaftlichen Formationen, wie sich im Wasser spiegelnde Berge, reichen können. Unklar bleibt ferner die Situierung des Anfangs- und des Endpunktes der Zeichnung: Beide könnten gleichermaßen in dem Kreuz zu suchen sein, das auf der linken Seite des Körpers oberhalb des angedeuteten Ringes zu erkennen ist.
Nicht nur aufgrund ihrer dem Schreibprozeß ähnelnden Technik, sondern auch aufgrund der erwähnten schöpferisch-musikalischen Assoziationen läßt Kirchmairs Zeichnung überdies an die abstrakt expressionistischen Werke von Jackson Pollock (Cody/Wyoming 1912 - 1956 Springs-East Hampton/New York) und John Cage (Los Angeles 1912 - 1992 New York City) denken.
Die zweite Zeichnung [Abb. 2], die sich nahezu über ein Drittel der Blattfläche ausdehnt und damit etwas mehr Raum einnimmt als die erste, ist ihrerseits leicht aus der Mitte des Blattes nach oben versetzt und mit etwas kräftigerem Druck auf den Stift ausgeführt. In die Grundform eines Rechtecks schreiben sich einander überlagernde runde und ovale For--men ein, die sich im oberen Bereich der Zeichnung zu opaken Volumina auftürmen und von einem zarten Gespinst aus nicht exakt waagerecht und senkrecht geführten Strichsequenzen überzogen werden. Auch in diesem Blatt ruht das Gebilde auf einer Art Horizontlinie, die es trotz seiner großmaschigen Binnenstruktur erdet. In ungleich stärkerem Maße als im er-sten Blatt wird hier ferner eine energetische Aufladung des gezeichneten Körpers spürbar. Wuchtig verschafft er sich Raum im lockeren Netz der Strichelungen. Die ihn wie Pack-schnüre umfangenden durchgängigen Vertikalen vermögen seine sich herausbildende Masse, die trotz ihres feinen Liniengefüges monumentale Präsenz entfaltet, nur mühevoll zu bändigen. Auf den ersten Blick mag die Darstellung den Betrachter an aufgetürmte Gewitterwolken erinnern, die im Prozeß der natürlichen Energieentladung heftige Regenfälle absondern. Im kunsthistorischen Kontext verweist sie aber auf die Handstudien von Chillida, dessen Graphiken Kirchmair, wie erwähnt, zu seinen Inspirationsquellen zählt. Chillida hat in diesen Studien mit der Reduktion der künst-lerischen Gestaltungsmittel im Hinblick auf die Auflösung der geschlossenen Form und deren Situierung im Raum experi-mentiert, wobei das Motiv _ die Hand _ stets klar erkennbar geblieben ist. Im Unterschied dazu geht es Kirchmair hinge-gen primär um den gestisch-expressiven Charakter seiner ab-strakten Zeichnung, in der sich erst mit dem Wissen um das Vorbild auch das Motiv einer frontal auf den Betrachter ge-richteten geballten Faust erkennen läßt. Die der Faust inne-wohnende Kraft drückt Kirchmair in dieser Zeichnung über die im Wortsinn beschreibende Linienführung aus; – zu Pa-pier gebracht mit seiner eigenen, den Stift führenden Faust. Abermals wird deutlich, wie eindrucksvoll sich Kirchmairs Graphik zwischen den beiden Polen Kraft und Leichtigkeit bewegt.
Wie ein Amalgam der ersten und zweiten Zeichnung wirkt die dritte [Abb. 3], die nunmehr fast die Hälfte des Blattes be-deckt und ebenfalls in die obere Bildhälfte gerückt ist. Sie kombiniert nicht nur die zarten und kräftigeren Linien des mit schwächerem (erste Zeichnung) und stärkerem (zweite Zeichnung) Druck aufgesetzten Bleistiftes, sondern impliziert in ihrer atmosphärischen Gesamtwirkung abermals die be-reits erwähnten Naturformationen. Deutlich zeichnen sich drei vertikal in die Bildtiefe gestaffelte Hauptlinien vom Papier ab, die zum Hintergrund hin zunehmend auf- und absteigen und ihre vitale Binnenstruktur durch stenotypenartige, schräg von unten nach oben ins Papier gestoßene Stiftspuren erhalten. Über dem Ganzen breiten sich zarte Linien in querovalen Rin-gen aus, die die dunkleren Konturen der frei auf dem Blatt schwebenden Grundzeichnung wiederholen oder spiegeln. So scheint sich vor dem Betrachter aus dem Nichts des leeren Papiergrundes ein visionäres Gebirge aufzubauen, über dem sich zarte Nebelschleier zu Regenwolken formieren. Ähnliche Motive zeigen auch Corinths graphische Landschaftsdarstel-lungen, mit denen sich Kirchmair ebenfalls auseinanderge-setzt hat. Zu betonen bleibt aber, daß es Kirchmair weniger auf die Assoziationsmöglichkeiten seiner ausnahmslos ab-strakten Kompositionen ankommt, als vielmehr auf ihre Aus-druckskraft: Ihm geht es wesentlich darum, mit Hilfe seiner Körperbewegungen seine Seelenlandschaft auf das Papier zu bannen und den sinnlichen Aspekt von Kunst erfahrbar zu machen. Die Intimität seiner ausdrucksstarken, konzentriert in das Papier eingeschriebenen – ja fast eingestickt wirken-den – Zeichnungen vermittelt sich dem Betrachter durch die kleinen Formate und die zarte Tonalität der Linien, die dazu einladen, sich dem Blatt bis auf Nasenlänge zu nähern und sich ganz auf die Darstellung einzulassen.
Im Medium der Druckgraphik, für die er sein Werkzeug selbst herstellt, erzielt Kirchmair ähnliche Effekte wie in der Zeich-nung. Auch hier entsteht trotz der nunmehr breit angelegten Linien eine zarte, sinnliche Wirkung, die aus dem asketischen Formenrepertoire, dem peniblen Auswischen der Platten zu-gunsten einer sauberen Abbildung der Linienführung sowie den sich im Druck abbildend Eigenheiten der jeweiligen Technik resultiert.
Besonders augenscheinlich wird dies in „Ohne Titel (Schabblatt Nr. 75, Ex. 5/10)“ [Abb. 4], das als einziges Schabblatt in Kirchmairs Werk eine Ausnahme darstellt. Auf dem Blatt reihen sich 25 senkrechte Linien aneinander, die mit unterschiedlicher Ansatzhöhe freihändig von oben nach unten gezogen wurden. In ihrem Verlauf variieren sowohl ihre Breite als auch ihre Druckintensität. Diese Abweichungen in der Form und der Sättigung der Linienstruktur hat Kirchmair mittels einer individuellen Technik erzielt, die sich auch aus seinen in der Zeichenpraxis gewonnenen Erkennt-nissen speist.
Wird die Platte in der traditionellen Schabtechnik zunächst mit dem Wiegeeisen fein gekörnt, bevor das Motiv mit einem dreieckig geschliffenen, spitz zulaufenden Schaber aus dem aufgerauhten Grund gehoben und anschließend mit dem Polierstahl geglättet wird, so daß ein Negativdruck mit fein-sten Schwarzweiß-Abstufungen entsteht, so hat sich Kirchmair hier einer dem Kupferstich ähnelnden Technik be-dient. Er hat einen selbst konstruierten quadratischen Griffel, der sich beidhändig fassen läßt, unter Drehen und Wenden über die glattpolierte Platte gezogen. Erklärtes Ziel dabei war, den Arbeitsprozeß selbst sichtbar zu machen: „Die originäre Spur des Schabers […] wird bei […] [der tradi-tionellen] Methode getilgt, und genau das will ich nicht. So arbeite ich mit dem Schaber nicht in die gekörnte, sondern in die polierte, also nicht druckende Fläche hinein und es ent-stehen eingetiefte, fein geriffelte Schabspuren, die im Druck mit zartesten Grauabstufungen die Spur des Werkzeugs manifestieren.“
Die sanften Grautöne zeigen sich an den Stellen, an denen der Schaber - gewissermaßen wie ein „geflachter“ Bleistift _ mit ganzer Kantenbreite zum Aufliegen kam und _ ähnlich wie beim Kupferstich - einen Metallspan aus der Platte ge-hoben hat. Die volltonigen, schmalen Linien entstanden hin-gegen durch den über Eck geführten Schaber, dessen Spuren denen des „gespitzten“ Stiftes ähneln und der – vergleich-bar der Radiernadel – tiefe Grate im Plattenmetall aufgewor-fen hat, in denen sich die Druckfarbe vermehrt ansammeln konnte. Im Druck haben sich im Linienverlauf horizontale Farbmarken sowie eckige S-Formen abgebildet, die die Wen-depunkte des Schabers und damit die „Atempausen“ im kraftraubenden Schaffensprozeß markieren.
Bei ganzheitlicher Betrachtung wirken die zeichenhaften Linien wie langgestreckte Buchstaben, die den Rezipienten wiederholt zu dem – letztlich vergeblich bleibenden – Versuch animieren, einen Sinnzusammenhang zu entziffern. Nähert sich der Betrachter dem Blatt, ergeben sich wieder neue Eins-ichten: Nun erinnern die sanft geschwungenen, transparen-ten Werkspuren eher an mikroskopisch vergrößerte vegeta-bile Strukturen.
Bei den beiden übrigen Blättern „Ohne Titel (Kalte Nadel Nr. 59, Ex. 4/20)“ [Abb. 5] und „Ohne Titel (Kalte Nadel Nr. 62, Ex. 3/20)“ [Abb. 6], die der Einfachheit halber im Folgenden unter ihren Zusatztiteln geführt werden, handelt es sich um Kaltnadelradierungen. Sie sind ihrerseits bezüglich ihrer Formen mit den Zeichnungen verwandt.
In „Kalte Nadel Nr. 59“ [Abb. 5] nimmt die Komposition, die in die obere Blatthälfte gesetzt wurde, nur knapp ein Sechstel der Bildfläche ein. Ähnlich wie in der bereits besprochenen dritten Zeichnung [Abb. 3] schweben auch hier drei hügel-ähnliche Objekte frei auf dem Blatt, die über- bzw. hinter-einander gestaffelt sind und sich nach unten in rechtsge-richteten Parallelschraffuren öffnen. Diese geben ihnen zu-gleich ihre Binnenstruktur. Im rechten Drittel der Darstellung, in der die Wölbung der Silhouetten ihren Gipfel erreicht und die Schraffuren zum Teil über Kreuz geführt sind, entwickelt sich ihre größte Dynamik. Im Ganzen wirkt die an Felsforma-tionen oder Heuhaufen erinnernde Komposition jedoch ruhig, da sich ihre nebeneinander gelegten Schrägen kaum über-schneidenden und so Entspannung suggerieren.
Das seiner Numerierung zufolge kurze Zeit später entstan-dene Blatt „Kalte Nadel Nr. 62“ [Abb. 6] ist weitaus lebhafter komponiert und bildet in seiner spannungsvollen Anordnung und seiner kontinuierlich durch Quermarken unterbrochenen Linienführung einen vitalen Gegensatz zu „Kalte Nadel Nr. 59“. Die leicht aus dem Blattzentrum nach oben gerückte Komposition breitet sich über knapp ein Viertel der Blatt-fläche in zwei verschiedene Richtungen aus. Nach links ent-wickelt sich ein flächig wirkendes, spitzbogig zulaufendes Liniengerüst aus schwingenden, mehr oder weniger parallel geführten Graphen, die rechts unten aufeinander zu laufen. Sie leiten optisch zu einem voluminös anschwellenden, sich aus vier kreisförmigen Segmenten konstituierenden Linien-gebilde über, das sich um seine markierte Mittelachse zu drehen scheint und sich seinerseits kraftvoll senkrecht in die Höhe schraubt. Seinen gleichermaßen luftig wie kompakt wirkenden Körper überlagern vor allem auf der rechten Seite zahlreiche nervöse Striche, die in ihrer Verdichtung und Ver-kürzung den Bildrhythmus beschleunigen und eine gesteiger-te Erregung veranschaulichen. Hier erreicht die Darstellung, deren dynamische Formeln an diejenigen der oben analy-sierten ersten und zweiten Zeichnung erinnern [Abb. 1 und Abb. 2], ihr energetisches Zentrum. Die im künstlerischen Schaffensprozeß freigewordene Energie teilt sich dem Be-trachter zudem über die antagonistische Ausrichtung der Komposition mit, die den Blick beständig in Bewegung hält.
Die bei Kirchmair partiell zu beobachtende Befreiung der Linien aus Formzusammenhängen, die in „Kalte Nadel Nr. 62“ am rechten Bildrand besonders augenfällig wird, läßt an Jackson Pollocks bekannte Methode des „Drippings“ denken, bei der vom Pinsel abtropfende oder abgeschüttelte Farbe ihre Spuren auf der flach auf dem Boden liegenden Leinwand hinterlassen hat. Tatsächlich ist die Technik, die Kirchmair für seine Kaltnadelradierungen entwickelt hat – und die sich in Anlehnung an Pollock vielleicht als „Scratching“ bezeichnen ließe –, Pollocks Arbeitsweise nicht ganz unähnlich. Kirchmair selbst erklärt sein Verfahren wie folgt: „Meine erste Platte ist 200 cm lang und 33 cm breit. Diese kann ich nicht [wie der traditionelle Kupferstecher] auf einem Lederpolster liegend gegen die schneidende Hand führen. Ich arbeite im Stehen, wie ein Schmied, breitbeinig, dabei tief über die festge-schraubte Platte gebeugt. Mein Stichel ist eine „Ramme“ […]. Und die wuchte ich durchs Metall, mit aller Kraft. Meine Späne gleiten nicht glatt ab, sondern stauchen und quetschen sich, bis sie abreißen, dabei gefährlich scharfe Spanreste zurücklassend, die […] den auswischenden Handballen aufreißen und [beim Drucken] durchs Büttenpapier in den darunterliegenden Filz dringen.“
Von zentraler Bedeutung sind dabei die Radiernadeln, zu denen Kirchmair folgendes anmerkt: „Meine Nadeln stelle ich […] selbst her, denn die handelsüblichen taugen nicht für meine Zwecke. Mein Ziel ist, unzerschnittene Kupferplatten von 1 mal 2 m zu bearbeiten, so wie sie aus dem Walzwerk kommen. Für diese Größe benötige ich eine breitere Linie und dafür eine Nadel, die diese Beanspruchungen aushält – meine eigene Nadel.“
Diese Nadel ist – wie auch der oben beschriebene Schaber – so lang, daß sie mit beiden Händen geführt werden kann. Je größer nämlich die auf die Nadel einwirkende Kraft ist, desto stärker werfen sich beim Radierprozeß die Grate auf – und desto breiter laufen im Druck die samtigen Linien aus, deren Sinnlichkeit Kirchmair fasziniert. Bei der nahsichtigen Be-trachtung seiner Kaltnadelradierungen läßt sich in der Mitte des sanften Linienhofes überdies die feine, etwas hellere Spur der Rillen erkennen, die die Nadel in die Platte gezogen hat. So wird Kirchmairs künstlerisches Ziel, das sich auf die Kurz-formel „Mit aller Kraft zur Leichtigkeit“ bringen läßt, zuletzt auch im Detail anschaulich.
Seit 1999 druckt Kirchmair seine Platten nicht mehr eigenhändig, sondern arbeitet mit einem Assistenten zusammen. Auf diese Weise nimmt er von dem technischen Prozeß, dem er während seiner kreativen Arbeit höchste Priorität zuschreibt, beim Drucken selbst – als rein reproduktivem Verfahren - wieder Abstand. Den jeweiligen Eigenwert seiner schöpferischen Leistungen würdigt er auch insofern, als er von seinen Graphiken jeweils nur eine kleine Auflage herstellen läßt, um die Platten anschließend zu vernichten.
Kirchmairs Druckgraphiken ordnen sich in ein umfassendes konzeptionelles Vorhaben ein, das er als „Projekt Tiefdruck“ bezeichnet. Mit diesem Projekt strebt er das Ziel an, Kupfer-platten in der handelsüblichen Größe von 1 x 2 m zu bear-beiten. Dementsprechend sind seine Experimente mit den selbst hergestellten Radiernadeln in letzter Konsequenz auch darauf ausgerichtet, im Kaltnadelverfahren möglichst finger-breite Linien hervorzubringen, die beim Drucken mit dieser Plattengröße die Maßstabstreue in der Gesamtkomposition sichern können. Um sich auf großformatigen Druckplatten mit der gleichen Spontaneität ausprobieren zu können wie auf dem Skizzenblock, sucht Kirchmair inzwischen nach Spon-soren, die gewillt sind, ihm einen ausreichenden Vorrat an handelsüblichen Kupferplatten zur Verfügung zu stellen. Erst dann sieht er die Voraussetzungen gegeben, um mit der gestischen Freiheit eines Jackson Pollock auch in leinwand-große Plattenspiegel hineinarbeiten zu können. Möge ihm die Sponsorensuche gelingen.