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                    Eine Legende erzählt uns, dass Hokusai ohne Hände zu malen versuchte. Man berichtet, dass er eines Tages, nachdem er vor dem Shôgoun eine Papierrolle auf dem Boden ausgebreitet hatte, einen Topf blaue   Farbe darüber goss; darauf tauchte er die Füße eines Hahnes in einen Topf mit roter Farbe und ließ ihn über seine Malerei laufen, auf welcher der Vogel seine Spuren hinterließ. Und alle erkannten darin den Fluß Tatsuta, auf dessen Fluten herbstrote Ahornblätter dahintrieben. Anmutige Zauberei, wo die Natur ganz allein daran arbeitet, die Natur wieder hervorzubringen.

                                      (Henri Focillon)


Die verschränkten Linien, die Anton Kirchmair in den Kirchenraum von Heiliggeist entlassen hat, die in ihrer spezifischen, leicht bogenförmigen Lineatur, ihren wuchshaften Verwindungen und ihren Überschneidungen, ihrer organischen Lebendigkeit durch den Lichtraum der gotischen Halle streben und stürzen sind das Ergebnis einer langjährigen Suche nach einer künstlerischen Form, die nicht nur das artifizielle Endprodukt in den Vordergrund des Schaffens stellt, sondern der es auch darum geht, die Wirkweisen der Natur und ihre innewohnenden Prinzipien unverstellt aufzunehmen und vor Augen zu führen. Der Künstler begreift sich selbst nicht als Schöpfer, sondern stellt – nach eigener Maßgabe voll Dankbarkeit - die Schöpfung ins Zentrum seiner Arbeit. Ganz im Sinne des Werkwerdens des Werkes bei Martin Heidegger, der im Kunstwerk eine Weise des Werdens und Geschehens der Wahrheit   findet und den Begriff der Kunst aus dem Griechischen herleitet als nie die Tätigkeit des Machens, sondern die Entbergung des Seienden .

Will man den Weg Kirchmairs dorthin nachzeichnen, so künden drei große Abschnitte mit einzelnen Werkgruppen von der intensiven Suche des Künstlers von seinen ersten öffentlichen Äußerungen 1978 bis zur aktuellen Installation in Heiliggeist. Verschiedene Strategien untersucht er in diesen Abschnitten - Automatismus und Serialität, Leichtigkeit und Fragmentierung - und arbeitet sie intensiv in Zeichnung und Skulptur ab, untersucht ihre Gültigkeit und Reichweite in verschiedenen Materialien und Techniken. Dabei verschiebt sich die Bedeutung des Prozesses im Werk. In seine Installation für Heiliggeist fließen alle diese Strategien ein, sie bündelt als Synthese die Ergebnisse der Arbeit Kirchmairs und eignet sich daher zur Rückschau wie kein Werk zuvor.


Automatismus und Serialität


In seinen ersten künstlerischen Äußerungen  1978, als er Zeichnungen ausstellte, die – vor Maschinen im Deutschen Museum angefertigt – die Funktionsweise technischer Geräte und Werkzeuge aufzeigten, hatte sich die Faszination Kirchmairs für das regelmäßige und maschinenhafte Funktionieren von Dingen, die der Mensch zuvor für diesen Zweck geschaffen hatte, suchend angekündigt. Schon zu diesem frühen Zeitpunkt aber verabschiedete er sich von der Abbildhaftigkeit mit dem Ziel, das technische Stakkato, das er in seinem vor der Akademie erlernten Beruf als Werkzeugmacher erfahren hatte, auf eine direktere Art in seine Arbeit zu integrieren: er ...................lochte lange Reihen schmaler Stanzstreifen (Abb.1), hielt den rhythmischen Wechsel des Hoch und Tief von Wellpappe in Monotypien (Abb.2) fest und bemalte die Endlosrolle eines Handtuchspenders in der raschen Folge des Herausziehens.


Das Prinzip des Seriellen und den maschinenhaften Automatismus des Arbeitens hatte er bereits als Thema für sich isoliert, als er mit serieller Malerei (Abb.3) in die Landshuter Öffentlichkeit trat und versuchte, beides auf den menschlichen Körper zu übertragen: Malen muss während des Malens von alleine gehen . Sein Malen auf Löschpapier glich einer Versuchsanordnung: Lange Reihen von Einzelblättern wurden nach einem vorher festgelegten Plan bearbeitet, dessen Ziel es war, das Denken während des Arbeitens auszuschalten , den Ablauf der Arbeit soweit zu automatisieren, dass der Arbeitsprozess selbst autonom ablaufen konnte, ohne optisches Nachprüfen und gedankliches Vergleichen: Ich stehe (…) über dem Blatt. Die Arme schwingen in den Schultern. Pinsel eintauchen, darüberstreichen, Blatt anheben, glattstreichen. Kein Denken! Kein Blick zurück auf das bereits bemalte Papier. Kein Blick voraus auf das weiße Blatt – automatischer, vom Denken abgelöster Prozess!  Als Fazit seines Versuchs hielt Kirchmair in der Dokumentation Serielle Malerei vier Voraussetzungen fest, die ihm zur Erlangung eines guten und ehrlichen  Ergebnisses wichtig erschienen: 1. Ein klar formuliertes Arbeitskonzept: z.B. Art, Reihenfolge und Konsistenz der Farben/ 2. Optimale organisatorische Bedingungen: Blätter, Unterlagen, Pinsel und Farben müssen vorbereitet sein/ 3. Größtmögliche Konzentration innerhalb des Malvorganges/ 4. Straffes Arbeitstempo. Entscheidend für das Ergebnis war demnach der Prozess der Herstellung.

Beim Sortieren der fertigen Bilder nach gelungenen und nicht gelungenen Resultaten stellte der Künstler fest , dass nur die erste, die unbekümmerte Reihe und dann erst wieder die allerletzte überzeugende Blätter ergeben hatten, während er dazwischen all die Dinge in den Griff zu bekommen versucht hatte, die er sich während des Arbeitens bewusst und zum Problem gemacht hatte. An dieser Stelle trifft sich das Fazit Kirchmairs mit einer Erkenntnis Heinrichs von Kleist, die dieser aus den Bewegungen von Mensch, Tier und Marionette herleitet: Wir sehen, dass in dem Maße, als, in der organischen Welt, die Reflexion dunkler und schwächer wird, die Grazie darin immer strahlender und herrschender hervortritt . Darüber hinaus findet diese Grazie sich auch wieder ein, wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist (…); so, dass sie, zu gleicher Zeit, in demjenigen (…) am reinsten erscheint, der entweder gar keins, oder ein unendliches Bewusstsein hat, d. h. in dem Gliedermann, oder in dem Gott . Der Wunsch nach der Unbekümmertheit seiner ersten Reihe ließ Kirchmair in den folgenden Jahren dem Kleist’schen Gliedermann in sich selbst nachforschen.


Die Idee einer Wirklichkeit, die sich der Beobachtung und der Vernunft entzieht und in ihren Gesten eine innere Realität spiegelt, berührt die antike Vorstellung einer Weltseele, der anima mundi, ebenso wie die Freud’sche Psychologie des Unbewussten. So spannt sich das Kunstwollen Kirchmairs zu diesem frühen Zeitpunkt ein zwischen die automatischen Zeichnungen Andre Massons oder Hans Arps im Sinne einer transzendentalen Kalligraphie“   und Jackson Pollocks Netzwerke gestischer Körperlichkeit, zwischen die mouvements   Henri Michaux’, der in rhythmischen Niederschriften jene Schwingungen des Geistes festzuhalten suchte, die mit der Sprache nicht mehr erreichbar waren und die Befreiung  der Kunst von Ideen, die Jean Dubuffet postuliert hatte, um die seherische Gabe in die Kunst eindringen zu lassen.


Mit dem Spann seines ganzen Körpers bemalte Kirchmair nur Wochen später für das Projekt Kurbelwelle (Abb.4) eine 13 mal dreieinhalb Meter große Wand in der zum Abriss freigegeben Halle der Auflegerinnung in Landshut. Ziel war nicht, ein erkennbares Abbild einer Kurbelwelle zu schaffen, sondern ihre Funktionsweise auf den Arbeitsprozess zu übertragen. Automatisch, wie die Maschine selbst, schwang der Künstler den Pinsel im Radius seines Armes .............und ließ - in vorher............. bestimmten Abständen – eine Reihe von Kreisen und Halbkreisen an der Wand entstehen. Der Prozess selbst entfaltete mit Hilfe von Kirchmairs Körper und den angeschlossenen Instrumenten Pinsel, Farbe, Wand das Wirkprinzip einer Kurbelwelle, er überführte das Schwingen, die oszillierende Bewegung des Künstlers, in eine rotierende, die an der Wand ablesbar wurde.


Das Ausschalten des ergebnisorientierten Denkens auch auf die Zeichnung zu übertragen, ließ ihn sein Prinzip des Automatismus für die Aktzeichnung modifizieren: Schnellzeichnungen sollten die Reflexion durch die Vorgabe der Schnelligkeit erschweren; in Tast-Blind-Zeichnungen verhinderten verbundene Augen den Seitenblick auf das Gezeichnete, weil der Zeichner das Aktmodell betastete und das Ertastete so unmittelbar wie möglich auf das Papier zu bringen versuchte. Den Weg von der Hand aufs Blatt zu verkürzen und den Umweg über den Kopf ganz zu vermeiden versuchten die Streichelzeichnungen, für die das liegende Aktmodell mit einer Vlieselinebahn bedeckt und durch diese hindurch die Konturen des Körpers – in einer Art Frottagetechnik - mit Zeichenkohle abgerieben wurden.


An der Erweiterung in die Dreidimensionalität indes fand das Kurbelwelle-Prinzip seine Grenzen: Als Kirchmair 1988 durch die quadratischen Öffnungen der Fensterreihen der Landshuter Kunstkreis Galerie hölzerne Schächte in den Außenbereich schob (Abb.5), konnten ihre angeschrägten Spitzen, in rhythmischer Abfolge um jeweils 90 Grad gedreht, die Drehbewegung, die die massiven Walzen der Kurbelwelle ausführen, nicht imitieren, sondern lediglich imaginieren. Detailzeichnungen gingen der Installation voraus, der Prozess selbst verlor an Bedeutung, die Verbindung von Arbeit und künstlerischem Tun war unterbrochen. Zur tatsächlichen Bewegung kam es ganz ungeplant, weil das Landshuter Bauamt darauf bestand, dass die nach außen ragenden Teile allabendlich eingeholt werden mussten.


Die Auseinandersetzung mit dem Raum und mit dem Material Holz führte zu vielfältigen Versuchen in den kommenden Jahren, zu Sägearbeiten und Heraklithskulpturen, zu Linolschnitten und Zeichnungen. Darunter einfache Bilder auf Sackleinen, denen Kirchmair aus wenigen Linien einfache Formen einschrieb. Die Suche nach dem absichtslosen Werk, das nicht die Ideen des Künstlersubjekts trägt, sondern von einem Es geschaffen wird, blieb. Helmut Kronthaler reflektierte früh die Intention des Künstlers: Tatsächlich denkt Kirchmair beim Zeichnen auch keineswegs .............................nur an mögliche Installationen; wichtig ist ihm vor allem der Strich, den er gerne mit dem Hieb eines japanischen Fechters vergleicht. Diese absolute Präzision zu erreichen, ist sein eigentliches Ziel. Wie es dann wieder in eine räumliche Arbeit zu übersetzen sein wird, bleibt vorerst noch abzuwarten .


Leichtigkeit


Die Entflechtung seiner eigenen Lebensumstände, die


Aufgabe seines Lehrerberufs 1992, führte zu einer neuen, geklärt wirkenden bildnerischen Situation, die Kirchmair zugleich experimentell und theoretisch erarbeitete. Befreit von der Last des Farbeimers und des schweren Pinsels konnte er auch die Gestik auf ein Minimum zurücknehmen, seine neue, der Leichtigkeit verpflichtete Arbeit brauchte nicht mehr die große Aktion, ihr Bedürfnis nach Ruhe, Helligkeit und Transparenz ließ auch die Reflexion über das Ergebnis wieder zu. Erfahrungen aus seiner Zeit als Seemann und Bergsteiger und sein Nomadisieren zwischen zwei Wohnsitzen, zwischen Untergangkofen bei Landshut und Haidmühle im Bayerischen Wald mögen den Wunsch nach leichtem Gepäck verstärkt haben. Zur physischen Leichtigkeit im Material kam eine ökologische: Mit der Verwendung von Holz bereitet man der Welt keine Probleme. Wenn man damit fertig ist, kann man es auf den Müll oder in die Donau oder in den Kaminofen werfen.


Lineare Spanzeichnungen (Abb.6) setzten 1993 diese Idee der Leichtigkeit erstmals um: Holzspäne als Farbträger legten die Farbe in breiter Bahn aufs Blatt, die frische und sich zu Ende neigende Farbe im Span bewirkte ein An- und Abschwellen, einen Rhythmus von hell und dunkel. Ein Verfahren, das nicht nur in seinem additiven Herstellungsprozess an das Wachstum und die knotigen Rohre von Bambus oder Schachtelhalm erinnert. Metallrohre, die Kichmair erst zerschnitt und dann rhythmisch aneinandersteckte, überführten diesen Gedanken in die Dreidimensionalität.

Das Verfahren variierte, als Kirchmair eine Farblinie senkrecht auf das Papier auftrug und diesen einmal vorhandenen Farbvorrat, ebenfalls mit dem Holzspan, zunächst horizontal und dann in breiten, transparenten Bögen ausstrich: In minimalisierter Gestik und in meditativer Serialität legten sich so parallele Rippen und Kreise aufs Blatt, die sich Ring um Ring vorwärts arbeiteten: jede Bahn setzte exakt an den Rand der vorangegangenen an. Die additive und übereinanderlegende Arbeitsweise führte zu räumlich, ja architektonisch wirkenden Strukturen, zu Körperlichkeit, die an archaische Hirtenbehausungen, aber auch an Wespennester und Kokons erinnerte und so zur Bezeichnung frühe Häuser  (Abb.7) führte.

Auch wenn feste Vorgaben – die Farbmenge, die Struktur des Verstreichens und das Arbeiten in Serien - jedem Blatt vorausgingen, brachte der Verzicht auf Schnelligkeit und auf das Reflexionsverbot neue Möglichkeiten mit sich, das Thema und die Bildfläche auszureizen und eine virtuelle Räumlichkeit zu entdecken.


Die raumumschreibende Transparenz der frühen Häuser mündete in raumfassende Objekte (Abb.8), in Körper, deren Haut sich aus möglichst dünnen und gleichen Teilen aufbaut. Aus Pappelsperrholz, einem ebenso armen wie leichten Gebrauchsmaterial, entstanden in handwerklicher Feinarbeit lange, schoten- und spindelförmige Körper in menschlichen Dimensionen. Das Verfahren ähnelt dem Schiffsbau: über ein gleichmäßiges Gerippe aus schmalen Latten spannt sich eine nahezu transparente, samtig geschliffene Außenhaut und verbirgt die Spannungen im Inneren.

Nichts Maschinenhaftes fand sich mehr darin, Serialität aber blieb nicht nur durch die Vielzahl gleicher oder ähnlicher Teile erhalten, die für die Herstellung vorbereitet werden mussten. Teil des Werks war auch die Präsentation: In lockerer Reihung, nebeneinander auf dem Boden liegend oder an die Wand gelehnt präsentierten sich die Formen nicht artifiziell, sondern in einer Werkstattsituation. Dem Handwerker entlehnt, oder dem Jäger und Sammler, der seinen Fang auslegt oder aufhängt, zum Sichten, Trocknen und Lagern. Zur Leichtigkeit gehört auch eine nichthierarchische Gleichwertigkeit der einzelnen Teile.


Ihre Mobilität und damit ihre materielle Leichtigkeit thematisierten die hölzernen Körper in der Ladengalerie der Künstlerwerkstatt in der Münchener Lothringerstraße 1997, wo sie unter dem Titel Die Haut der Dinge (Abb.9) mit Transporthüllen versehen wurden. Die Hüllen aus Segeltuch umfassten die Objekte, dienten ihnen als Unterlage oder lagen zusammengefaltet daneben.

Für eine Installation  in der Josefikapelle in Roding ein Jahr später (Abb.10) isolierte der Künstler die leinenen Hüllen und präsentierte sie in gläsernen Schreinen auf dem Boden des frühromanischen Rundbaus. Menschlich in ihren Dimensionen nahmen die Falte für Falte akkurat genähten Hüllen den genius loci auf und verwiesen auf die Gewandfiguren, die in Form frühgotischer Fresken den einzigen Schmuck des kahlen Kirchenbaues ausmachten. Im Dialog mit den Wandmalereien führten die Formen dem Betrachter den Übergang von romanischer Repräsentation zu gotischer Bilderzählung vor Augen. Der frühromanische Ursprung des Rundbaus, der in seinem mittlerweile funktionslosen Inneren die vierteilige Arbeit von Anton Kirchmair barg, wurde herbeizitiert, wenn die Raummitte von den in strenger, fast feierlicher Haltung darinliegenden Figuren rhythmisiert wurde. Dabei bildete die Strenge des Linearen, die in den steilen Parallelfalten von Kirchmairs Hülle, in der starken Differenzierung von Wulst und Kehle, ihren stärksten Ausdruck fand, ein Analogon zur besonderen Betonung des Linearen vor 800 Jahren.


Fragmentierung


Die Grate der Hülle, die Zerlegung der Fläche in Linien kündigte einen weiteren Schritt im Werk Kirchmairs an: Sein Prinzip der Leichtigkeit fand in der Fragmentierung eine logische Fortführung. Das Zerlegen des Werks in lauter gleiche Elemente, die je nach bildnerischem Bedarf andernorts wieder neu und anders zusammengefügt oder angehäuft werden können, geht mit der Auffassung von Gilles Deleuze einher, dass Ganzheit eine Illusion und Ziel der Kunst die Erzeugung sensibler Aggregate  sei und begegnet in ihrer Auflösung der beständigen Formen der nur temporären Skulpturen und ihrer Deterritorialisierung Paul Virilios Ästhetik des Verschwindens .


Zerlegt in dreizehn Segmente taucht dieser Aspekt bereits im Kronreif (Abb.11) auf, dessen Teile sich im Sommer 2000 vor der Weltenburger Klosterkirche zusammenfinden. Wichtigstes gestaltgebendes Element des Baus, der als erstes gemeinsames Hauptwerk der Brüder Cosmas Damian und Egid Quirin Asam gilt, ist der barocke Kronreif, der dort den Gläubigen den Blick aus den vergoldeten Kuppeln in einen lichtdurchfluteten Illusionsraum öffnet. Das zentrale, 8 mal 11 Meter große Oval hoch über den Köpfen der Kirchenbesucher, das die Nahtstelle zwischen irdischem und himmlischem Szenario markiert, holte Kirchmair für die Blicke der Besucher auf den Boden zurück. Zusammen mit Karl Caspers baute er den Kuppelausschnitt mit Hohlbalken aus Schalungsbrettern im Hof nach. In Einzelbögen lagen und standen sie – ganz Werkstattsituation – neben dem Portal der Kirche: fragmentiert und säkularisiert.


Die logische Fortführung dieses Gedankens mündete in die Verwendung von standardisiertem Material, von Fertigmodulen aus dem Baumarkt oder Schreinereien der Region: Sie eröffnete die Möglichkeit des Auf- und Abbauens an verschiedenen Orten, und die Flexibilität, jeweils Verschiedenes daraus zu bauen. Für die Ausstellung Der Blick aus der Zukunft  in der Schlossökonomie Eggenfelden 2001 steckte er Holzlatten mit Hilfe von Metallklammern zu Gitterstrukturen zusammen. Die Installation für den Oberösterreichischen Kunstverein in Linz 2000 (Abb.12) entstand durch bloßes Legen: Über helle, storchenbeinige Holzböcke ordneten sich hunderte dünner Holzstäbe radial zu einem leuchtend orangeroten Aufbau. Im Ergebnis Eingeborenenhütten ähnlich oder Krähennestern, die keine kompliziert gewebten Flechtwerke, sondern Zusammenwerfungen von gefundenem Holz sind und wie diese jederzeit wieder auflösbar.


Handlungsweisend für die Zersplitterung in einzelne Punkte und Linien war die Zeichnung, die in jedem Werkabschnitt Kirchmairs den nächsten Schritt vorbereitete: Für die Bilder, die 1998 unter dem Titel Skizzen (Abb.13) im Landshuter Rathaus ausgestellt wurden, war Leichtigkeit ein bewusst reflektiertes Thema: Was eine Zeichnung zur Zeichnung mache, wie viel Materie dafür nötig sei, war zugleich Thema eines Vortrages  über seine Arbeit, den Kirchmair in Japan hielt. Dafür versuchte er, zwei Blätter zu wiegen, eines mit einer Zeichnung und eines ohne. Aber die besten pharmazeutischen Waagen, so stellte er fest, die auf ein zehntausendstel Gramm genau wogen, konnten keinen Unterschied feststellen . Demnach müsse er zehntausend Zeichnungen mit einem Gramm Bleistiftmine  herstellen können. Vielleicht, so hielt er fest, ist das einer der Gründe, weshalb eine Zeichnung so leicht sein kann wie ein Gedanke, so weich wie ein Lufthauch und so rasch wie ein Flügelschlag .

Diese Unmittelbarkeit spiegeln seine Zeichnungen in einer ausgesprochen zarten, bisweilen verletzlich erregten, bisweilen ruhig meditativen Linienführung, die in ihrer Balance von Spontaneität und schwebender Leichtigkeit, Heiterkeit und Kraft, den Charakter kreativer Meditation tragen. Die fließende Wahrnehmung der Punkte, Linien und gebündelten Linienfelder ersetzt die optische Fixierung früherer Gewohnheiten. Als gesponnene Spur schreiben sich weiche, runde Gesten und holprige Wege in den Zeichenträger ein. Spärliche Assoziationen von Körperlichkeit, Rhythmus und Zusammenspiel beleben die Leere des weißen Blattes und verleihen ihm ein vordem nicht vorhandenes Dasein. Das gleichzeitige Nebeneinander von Linearitäten, die sich überlagern und netzartig verweben löst das vordem maschinenhaft Serielle in der Bildwelt Kirchmairs ab.


Ungetrübt durch visuell gesteuerte Auswahlverfahren ihres Erschaffens unterscheiden sich diese Linien deutlich von kalkulierten, bloß-ästhetischen Linienkombinationen. Ziel des Künstlers ist die Vermeidung des entsetzlichen Übermaßes an Virtuosität , das Focillon für den Fall beschreibt, dass der Mensch zwei rechte Hände hätte. Kirchmairs Credo für die Malerei weitet nun seine Gültigkeit in die Zeichnung aus: auch Zeichnen muss während des Zeichnens von alleine gehen, aus einem Arbeitsprozess heraus, den Kirchmair sich streng vorgibt. Frühere Erfahrungen des automatischen Arbeitens verbinden sich mit dem Anspruch von Leichtigkeit, der auch die Künstlerperson mit einschließt und gedankliche Schwere und körperliche Aktion zu vermeiden sucht. Hier scheint er sein Jahre zuvor formuliertes Ziel verinnerlicht zu haben: Dass sein Strich die Präzision des Hiebs eines japanischen Fechters erreicht: Die erste Probe für das Leben ist schon das Leben selbst  gilt auch für Kirchmairs Zeichnung.

Dem Fechter und den Meistern aller Künste, ob Schwertführung oder Bogenschießen oder Tuschemalerei, gilt die Loslösung von sich selbst als erster Schritt . Auch ihre Handlung kommt nicht aus der Idee und setzt die absolute Entleerung der Sinne voraus, die der Zen-Schüler Herrigel beschreibt, wenn er von der Kunst des Sich-selbst-Vergessens  spricht, für die man lernen müsse, in einem radikalen Sinne absichtslos zu werden . Eine Erkenntnis, die John Cage direkt übernommen hat: Die höchste Absicht ist, überhaupt keine Absicht zu haben. Das stellt einen in Einklang mit der Natur und der Art ihres Vorgehens . Aus solcher absoluten Leere, so zitiert auch Herrigel seinen Zen-Meister, entspringt die wunderbare Erfindung des Tuns . Kindliche Unschuld und himmlische Lenkung liegen dort dicht beieinander, so wie Kleists Gliederpuppe und sein Gott.


Kirchmair entwickelte für sich selbst Strategien, sich und sein bewusstes Denken zu überlisten. Dazu gehört die Vorbereitung seines Arbeitsfeldes, die er in seiner Gebrauchsanweisung – Kunst machen  beschrieb und die einem Ritual gleicht: Aufräumen des Arbeitsplatzes ist ebenso Voraussetzung zur Erlangung einer geeigneten Grundverfassung wie die Innere Sammlung durch Spaziergang oder Ausruhen, bequeme Kleidung und eine Verbeugung in aller Form: vorbereitende Zeremonie, die die Konzentration fördert und Außengeräusche dämmt, den Künstler leer macht und in einen Zustand der Unschuld bringt. Um, mit Herriegel, die rechte geistige Verfassung des Künstlers zu erreichen, in der die Vorbereitung und das Schaffen, das Handwerkliche und das Künstlerische, das Materielle und das Geistige, das Zuständliche und das Gegenständliche fugenlos ineinander übergehen .


Beim Zeichnen selbst, um es ein selbsttätiges Schreiben werden zu lassen, steht Kirchmair mit gebeugtem Oberkörper über dem Blatt, sodass der Bleistiftstrich ungestört aus der Körpermitte auf das Blatt fließen kann. Das meint Kirchmair auch, wenn er sagt, die Bewegung des Stifts komme direkt aus der Hüfte .

Um diese Bewegung unzensiert aufs Blatt zu bringen, wird der Filter des bewussten Blicks aus dem Prozess herausgenommen: In dem Moment, wo ma hinschaut, geht der Grampf los , stellt er selbst fest, und lenkt seinen Blick während des Zeichnens zur Seite, vielleicht auf ein anderes Bild oder auf etwas, das in das Bild einfließen soll, nicht jedoch auf das Ergebnis. Unterstützt wird die Freiheit der Linie, wenn Kirchmair seinen Bleistift nur mit den Fingerspitzen ganz hinten hält, wo er wegen des schlechten Hebels die Kontrolle über den Stift kaum aufrechterhalten kann und der Stift springt.

Dadurch erhalten seine Zeichnungen etwas, das im besten Sinne einem Zeichnen mit der linken Hand gleicht. Was linkisch ist an der linken Hand, stellt schon Henri Focillon 1936 fest, sei in einer hochentwickelten Kultur unentbehrlich. Denn dieses bestimme den Menschen für eine höhere Zivilisation; sie verbinde uns mit der verehrungswürdigen Vergangenheit des Menschen, als er nicht allzu geschickt war . In den Linienzügen, die so entstehen, findet sich die Entsprechung zu den Bewegungen von Marionetten, die sich nach Kleists  Beobachtung niemals zieren, ihre Natürlichkeit nicht durch eigenes ästhetisches Kalkül verlieren.


Dasjenige, dem Kirchmair als Künstlersubjekt so bereitwillig den Platz räumt, ist nichts tief Individuelles mehr. Vielmehr versucht der Künstler selbst frei zu werden, nur noch Aufnehmender, Seismograph und Resonanzkörper zu sein. Im Zen-Verständnis ist das Es nur ein Name für etwas, das man weder verstehen noch erjagen kann, und das nur dem offenbar wird, der es erfahren hat.  Eine Vorstellung, die Paul Klee im Bild eines Baumes beschrieb: Vom Wurzelwerk, das den Dingen der Natur und des Lebens entspreche, strömen dem Künstler Säfte zu. Dieser, der damit an der Stelle des Stammes stehe, leite, bedrängt und bewegt von der Macht jenes Strömens, das Erschaute weiter ins Werk und entfalte es, wie die Baumkrone, nach allen Seiten . Auch den Zeichnungen Joseph Beuys’ wurde nachgesagt, dass sie aus dem Grund der Zeiten und des Bewusstseins kämen, Stephan Schmidt-Wulffen spricht von einer Unschärfe der Hand, so als hätte sich Beuys Denken mit seiner Hand nicht ganz einigen können und dadurch eine Art höherer Logik  zustande gebracht.


Selbst der Zufall wird als Gabe entgegengenommen: Kirchmair arbeitet in Museen nach Zeichnungen großer Meister und erstellt Blätter, die nach der Fragmentierung mit seinen Mitteln, dem langen Weg des Zerbrechens der visuellen Vorlage vom Ausgangsbild über das Wegschauen des Künstlers zur skripturalen Struktur auf dem Papier, nur noch fragile Spuren der ursprünglichen Zeichnungen sind. Immer zwei solch transparenter Blätter legt er übereinander und sie stimmen wechselseitig in das je andere ein, flechten ihre Lineaturen ineinander und initiieren einen zufälligen Dialog. Mehr noch verdanken die Holzdrucke (Abb.14) ihre Erscheinung dem postseriellen Prinzip der Aleatorik: Der I-Ching-Methode Orakelsprüche zu erstellen entspricht das Würfeln Kirchmairs: Seine handvoll kopfloser Streichhölzer erhalten ihre Plätze durch Streuen und leichtes Kneten mit der Hand – eine Kompositionsmethode, die schon John Cage in der Musik angewandt hat durch das Losen mit Münzen aus der Methode, die im Buch der Wandlungen verwendet wird .


Im Präsentationszusammenhang (Abb.15) ergeben die Bilder, Zeichnungen, Holzdrucke, Monographien, Kaltnadeldrucke und Lithographien lineare Gespinste im Raum. Kirchmair hängt sie in der Regel nicht an die Wände sondern legt sie auf eigens zusammengesteckte Tische, die fast wie eine Installation dem Raum eingeschrieben sind und die hauchdünnen Blätter fast schwebend unter die Augen der Betrachter halten.


Seine Installation für Heiliggeist (Abb.16) ist als Synthese seiner bisherigen Arbeit zu verstehen, in ihre Dreidimensionalität fließen alle bisherigen Erkenntnisse ein. Der Hieb des japanischen Fechters entsteht als Zeichnung im Raum und geht mit der Theorie einher, dass die östlichen Schriftzeichen erstarrte Gesten sind .

Es gelingt Kirchmair, Strategien seiner Primärdisziplin, der Zeichnung, auf das feste Material anzuwenden: Wo er dort versucht hat, die Hand vom Willen zu befreien, gibt er nun das Material frei: erstmals sind Herstellungsprozess und Eigenwille des Materials in einer plastischen Arbeit ablesbar, Zufälle akzeptiert: Der Wuchs des Baumes ist in der Löchrigkeit des Holzes, seine Bewegung in den Drehungen der hohlen Balken erhalten, die noch feucht zusammengeleimt worden sind und ihre Eigengesetzlichkeit im Trocknungsprozess entfalten konnten. Auch die Verwerfung der filigranen Holzkohlen, die vor dem Brennen zwar in scharfkantige Form gebracht werden, entzieht sich im Ofen dem Zugriff und selbst dem kontrollierenden Blick des Künstlers.

Beim Zusammenbauen der einzelnen Balken aus schon angetrockneten und damit vorgedrehten Brettern, und auch noch beim Aufbau der Installation wählt Kirchmair bedächtig, richtet sich nach dem Material, die Windung des vorherigen Balken bestimmt die Richtung des folgenden. Fast könnte man meinen, das Holz trete ihm wie Collodis Tischlermeister Kirsche gegenüber, der ein Scheit zu einem Tischbein machen wollte. Das Holz begann zu wimmern und war erst zufrieden, als der Holzschnitzer Gepetto die Puppe Pinocchio daraus schnitzte, die so gern ein richtiger Junge werden wollte.

Für Kirchmair, der nun schon seit Jahren mitten im Bayerischen Wald, einen Steinwurf von der tschechischen Grenze entfernt lebt, ist die Natur und der Wald, das Holz, wie man in Bayern sagt, im Adornoschen Sinne nicht der Kunst unterlegen , vielmehr steht der Wald für das Ungekünstelte – auch Kirchmair geht lieber in den Wald statt zum künstlerischen Abendessen . Seine Lebenserfahrung lässt er dabei durchaus einfließen in seine Arbeit, die Eigenheiten der Natur versöhnt er mit vorsichtiger Steuerung, der Idee, die er ohne Plan, nur im Zwiegespräch mit seinem Material entwickelt: Viel vom Schiffsbau, aus seiner Seefahrerzeit, verarbeitet er in seinem hölzernen Aggregat, aber auch der Nestbau der Krähe, die was sie findet einfach zusammenwirft, kommt wieder vor, und die Natur mit ihrem Jahreslauf von Werden und Vergehen, von Welken und Wachsen, Einsturz und Höhenflug.


Die Rolle des leeren Blattes seiner Zeichnungen übernimmt der lichte Raum der weiten Halle. Schon die gotischen Baumeister übten sich dort an einer Fragmentierung: die Wände zurückzubauen bis auf ein Gerüst, bis auf die Linearität von Pfeilern, Diensten, Streben und Graten. Hinzu kommt aber, was die Zeichnung nicht kann, eine vorgetäuschte Bewegtheit, die mit dem wandelnden Betrachter und dem Licht mit seinen tiefer werdenden Schatten einhergeht. Die Kirche und ihre Bedingungen unterstützt Kirchmairs Arbeit als Resonanzraum. In ihr entfaltet sie ihre ganz spezifische, leicht bogenförmige und sich in vielerlei Überschneidungen überlagernde Linearität , die der Künstler in der Natur sucht und in seinen Zeichnungen. Sie ist das Ergebnis seines Abarbeitens an der Blumenberg’schen Utopie, auf die Beherrschung der Natur zu verzichten, um ihre Vertraulichkeit zu gewinnen, die wahren Namen der Dinge zu kennen statt nur die exakten Formeln für ihre Herstellung, die hieroglyphische Erinnerung zu erneuern, statt sich dem Vergessen der Prognosen hinzugeben, den Ausdruck statt des Chemismus zu erfahren, den Sinn statt der Faktoren zu kennen . Im Zen würde man sagen: Das Wesen der Dinge statt ihrer Erscheinung.

Kirchmairs Kunst entsteht mehr denn je durch das Aufnehmen und das Nachfühlen der Dinge der Natur. Vielleicht würde diese Kunst sich nicht den die Madonna abbildenden heiligen Lukas zum Künstlerheiligen berufen, sondern die heilige Veronika. Das Bild, vera icon, entstand durch das Aufnehmen. Als sie ihr Tuch ausbreitete, um Christus auf dem Weg nach Golgatha den Schweiß vom Gesicht abzutrocknen. Die Liebe zum Anderen, zum leidenden Christus, war das eigentliche Motiv der Handlung Veronikas – die Liebe zur Schöpfung, als deren Mittler und Diener er sich versteht,  ist seines, das ihn selbst zum Schöpfer und zum Seher macht.

Anke Humpeneder-Graf

Der Gliedermann - Anton Kirchmairs Suche nach Unbekümmertheit