DIE GOTISCHE ARCHITEKTUR UND DER Wald - Henning Ritter
Die Holzskulptur, die Anton Kirchmair in die Heilig Geist Kirche gestellt hat, ist eigens für diesen Ort geschaffen. Die sich hochreckenden Buchenstangen tasten sich in das Gewölbe hinauf, dessen Höhe sie freilich nicht erreichen oder gar ausfüllen können. Das Gehölz im Kirchenraum wirkt wie ein Zerrspiegel jener Kräfte, die in Pfeilern, Streben und Diensten einen baldachinartigen Raum von großer Ruhe tragen. Das Holzgestänge dagegen, das sich vom Boden her aufreckt, scheint in seinem Wachstum gehemmt. Der Impuls, der in die Höhe drängt, erstarrt in einem Überschuß an Kraft, die wie vorläufig in galgenähnlichen Gebilden oder einem Kreuz endet. Woran liegt es, daß der Drang in die Höhe, anders als bei den umgebenden Pfeilern, aufgehalten und gehemmt wird? Läßt man den Blick an den Stangen in die Höhe gleiten, so machen sich irreguläre, widerstrebenden Kräfte, Drehungen und gewaltsame Verspannungen bemerkbar, die dem geradlinigen Aufstreben mächtig entgegenarbeiten. Bemerkt man diese gegenstrebigen Kräfte, so hat man das Drama dieser Holzskulptur vor Augen.
Dem Laien ist kaum geläufig, daß aus einem Buchenstamm herausgesägte schmale, dünne Streifen, sich nicht geradlinig entwickeln, wie wir es erwarten. Vielmehr beginnen sich die schmalen Bretter, sobald sie aus dem Holzstamm herausgelöst sind, zu winden und zu drehen. Sie verleugnen jede Geradlinigkeit, als wären sie im Buchenstamm eingesperrt gewesen und drängten jetzt in die Freiheit. Mit keinem Kraftaufwand lassen sie sich wieder in regelmäßige Form bringen. Auch wenn sie verleimt werden, löst sich die Spannung nicht, sondern wandert als kräftiger Drehimpuls in die nur mühsam zu bändigenden Hohlstangen ein. Ihre Aufstellung in der Umgebung der ebenmäßigen Pfeiler, die das Gewölbe tragen, macht auf eine Unstimmigkeit in der verbreiteten populären Auffassung von der gotischen Kirchenraum als einer Allee von Bäumen, einem gebauten Wald aufmerksam.
Ist nicht immer wieder der gotische Kirchenraum mit einem Wald verglichen worden? Goethe spricht 1772 in Straßburg von einem herrlichen Baum mit tausend Zweigen, unzähligen Ästen und Blättern, aufsteigend zum Ruhm seines Schöpfers. Friedrich Schlegel spricht von der „stolzen Wölbung eines hohen Baumganges“, sieht ein Gewächs von Kristallen, ein Aufblühen von Polyedern, so daß die Wunder der Flora in einer kristallinen Kathedrale abgebildet erscheinen. Hegel sieht sich in seinen berühmten Ästhetik-Vorlesungen an die „Wölbungen eines Waldes“ erinnert, „dessen Baumreihen ihre Zweige zueinander neigen und zusammenschließen“. In Frankreich ist es der Romantiker Chateaubriand, der dem Vergleich der gotischen Architektur mit dem Wald die ausführlichsten Schilderungen widmet und ihn bis in subtilste Einzelheiten entwickelt: „Diese aus Blättern gemeißelten Gewölbe, die Pfeiler, die die Mauern stützen und jäh abbrechen wie abgeknickte Baumstämme, die Kühle der Gewöl-be, die Düsternis des Heiligtums, die dunklen Seitenschiffe, die geheimen Gänge, die niedrigen Türen, das alles vergegenwärtigt in den gotischen Kirchen die Labyrinthe des Waldes, das alles weckt einen religiösen Schauder und ein Gefühl für die Geheimnisse des Göttlichen...“
Die geheimnisvolle Atmosphäre des Waldes, eine Rätselstimmung, wird mit den gebauten Geheimnissen der Dome und Kathedralen überblendet. „Große Wälder, ihr erschreckt mich wie Kathedralen“, ruft Baudelaire in dem Ge-dicht „Obsession“ aus, das die Natur als einen Tempel mit lebenden Pfeilern beschwört, als einen „Wald von Symbolen“, den der Mensch durchschreite und die ihn mit großen Augen ansehen. Das Gedicht ist ein Abgesang auf eine große Legen-de, die „Legende von der gotischen Architektur“, wie Jurgis Baltrusaitis, der Erforscher des Abseitigen in der Kunst, sie genannt hat. Die Kunstgeschichte hat diese Sicht der gotischen Architektur endgültig ins Reich der Legende, der architektonischen Mythen verwiesen.
Diese Legende ist aber älter und langlebiger als die zitierten Belegstellen. Sie ist vor allem nicht aus dem Geist der Romantik entstanden, sondern aus dem des Rationalismus. Das achtzehnte Jahrhundert hat die Ähnlichkeiten der Laubengänge in seinen französischen Gärten mit den Baumalleen der Kathedralen bemerkt und darin den gleichen rationalistischen Geist der Ordnung erkennen wollen. Die gotische Architektur erschien dem Klassizismus als ein Bauen mit Formen der Vegetation, eine Überblendung von Natur und Kunst, auch wenn in ihr andere, untergeordnete Aspekte der Natur zur Geltung kamen als in der klassischen Formensprache der Antike. Die Pfeiler, Gewölbe, Bündel-pfeiler, Kreuzrippen und Bögen der gotischen Bauten erschie-nen in ihrer Ähnlichkeit mit den Stämmen, Ästen und Zweigen von Bäumen zwar als Abweichung von der architekto-nischen Norm, die vom Klassischen vorgegeben wurde, aber diese Abweichung entsprang einer Rationalität, die es nicht erlaubte, sie ins Bizarre zu verweisen.